Meine Schwester war meine letzte Verbindung zur alten Heimat
Das Wichtigste in meinem Leben ist meine Familie. Meine drei Kinder mit ihren Familien, meine Enkelkinder und natürlich die Familie, aus der ich stamme. Ich bin die Letzte, die noch lebt von meiner Ursprungsfamilie.
Ich hatte fünf Geschwister, und erst kürzlich ist meine Schwester gestorben. Das hat mich durchgeschüttelt. Ich war und bin immer noch sehr traurig deswegen. Meine Schwester war meine letzte Verbindung zur alten Heimat. Durch sie ist auch die Erinnerung an unsere Kindheit lebendig geblieben. Jetzt habe ich niemanden mehr, zu dem ich sagen kann: «Weisst du noch?»
Ich bin in Oberstammheim aufgewachsen, auf einem Kleinbauernhof. Wir Oberstammener fühlten uns immer als etwas Besseres als die Unterstammener. Wir waren quasi der Stamm mit den Ästen, Blättern und Früchten, sie waren die Wurzeln. Ob das heute immer noch so ist? Ich habe keine Ahnung.
Ich weiss nur, dass ich eine glückliche Kindheit hatte, mit sehr viel Liebe und Geborgenheit. Materiell waren wir nicht besonders gut gestellt, doch wir hatten genug zu essen und Kleider. In der Geschwisterreihe bin ich die Drittjüngste, nach mir kamen noch Zwillinge. Damals gab es keine Ultraschall- oder sonstige Untersuchungen, und eine Zwillingsgeburt war deshalb meistens eine Überraschung.
«Da chunt ja grad namal es Chind!»
Ich erinnere mich, wie meine hochschwangere Mutter noch die Reben geschnitten hat – einen Tag vor der Geburt. Als die Wehen einsetzten, ist sie ins Dorf zu unserem Hausarzt gegangen. Der hatte ein extra Zimmer in seiner Praxis, wo die Frauen in Ruhe gebären konnten. Wie das erste Baby auf der Welt war, sagte der Arzt ganz verblüfft: «Hä? Da chunt ja grad namal es Chind!»
Dieser letztgeborene Bruder war oft krank. Und meine Mutter hatte im Haus, im Feld und in den Reben so viel Arbeit, dass sie wenig Zeit übrig blieb für ihn. Eine Tante anerbot sich, für ihn zu sorgen, und leider blieb er dann seine ganze Kindheit und Jugend über bei ihr. Meine Mutter hat es zeit ihres Lebens geplagt, dass sie sich überreden liess, den Buben wegzugeben. Auch wenn er manchmal zu uns zu Besuch kam, war stets ein Gefühl von Fremdheit da.
Meine Eltern waren immer da, wenn wir sie brauchten
Wir waren keine Familie von Umarmern und Schmusern. Öffentlich Zärtlichkeit zu bekunden wäre uns nie in den Sinn gekommen. Doch wir Kinder spürten immer, dass unsere Eltern uns liebten. Sie nahmen sich Zeit für uns, und oft sind wir zusammen im Wald spazieren gegangen. Das sind kostbare Erinnerungen.
Meine Eltern waren immer da, wenn wir sie brauchten. – So eine Kindheit kann einem niemand mehr nehmen. Ich bin überzeugt, dass es das Wichtigste ist in Familien, sich Zeit zu nehmen füreinander. Zeit für Gespräche, für Spaziergänge – einfach Zeit, um miteinander zu sein und das Zusammensein zu geniessen.
Für meine eigenen Kinder habe ich mir auch immer Zeit genommen. Ich hatte zwei Mädchen und einen Jungen. Wir waren auch keine grossen Umarmer – doch meine fünf Enkelkinder knuddeln mich immer, wenn sie mich besuchen. Das finde ich sehr schön, auch wenn ich es nicht gewohnt bin von früher her.
Mein Mann hatte zwei linke Hände
Meinen Mann habe ich kennengelernt, als ich im Service arbeitete. Ich konnte keinen Beruf erlernen, das war damals bei Mädchen nicht unüblich. Also habe ich im Service gearbeitet und längere Zeit auch als Haushaltvertretung auf Bauernhöfen, wenn die Bäuerin krank oder im Kindsbett war. Zwei Jahre lang habe ich in Otelfingen einen Haushalt geführt, und auch im Volg habe ich mal gearbeitet.
Mein Mann war gelernter Metzger, er wusste alles, was Fleisch anbelangte. Ansonsten hatte er, leider muss ich das sagen, zwei linke Hände. Alles, was mit Nagel, Hammer oder Bohrmaschine zu tun hatte, überliess er gerne mir.
Mein Mann liebte meine Eltern über alles. Er kam aus eher wohlhabendem Hause, doch Liebe oder Zusammenhalt waren keine da. Ich weiss noch ganz genau, als ich ihn zum ersten Mal meinen Eltern vorstellte. Sie nahmen ihn sofort auf und behandelten ihn wie einen Sohn. Am Abend dieses Tages sagte mein Mann zu mir: «Jetzt hani Eltere!»
Wir sind in Winterthur gelandet, weil es ziemlich genau in der Mitte liegt zwischen Weiningen, wo mein Mann herkommt, und meiner Heimat Oberstammheim. Mein Mann hat in der Grüze gearbeitet, bei Micarna, und später dann in Bazenheid.
Fünfzig Jahre lang haben wir im selben Wohnblock gelebt, an der Landvogt-Waser-Strasse. Und fünfzig Jahre lang habe ich auf den Ort geschaut, wo ich heute lebe – aufs St. Urban. Wobei es natürlich früher nur Gärten dort gab und Pünten.
Das war eine herrliche Zeit
Unsere zweite Heimat war der Camping Wildberg. Vor langer Zeit hat mich mal eine Freundin mitgenommen auf diesen Zeltplatz. Sie besass dort einen Wohnwagen, und wie wir am Nachmittag im Grünen sassen, hat mir das so gefallen. «Da möchte ich hin», dachte ich.
Mein Mann war sehr skeptisch und ich brauchte alle meine Überredungskünste, bis er sich darauf einliess, es wenigstens ein Jahr lang mal zu probieren. Nach diesem Jahr konnte man ihn fast nicht mehr vom Campingplatz wegbringen.
Fast vierzig Jahre lang hatten wir einen Wohnwagen dort. Den ganzen Winter über freuten wir uns auf den März, wenn Saisoneröffnung war, und die meisten Wochenenden verbrachten wir dort. Die Distanz von Seen aus, wo wir wohnten, zum Camping Wildberg ist kurz, und doch war es eine ganz andere Welt, in die wir uns jeweils begaben. Das Strässchen im Zeltplatz, wo wir unseren Wohnwagen hatten, nannten wir die Lindenstrasse, wie in der Fernsehserie, und die Menschen, die dort lebten, waren unsere Freunde. Wir haben gemeinsam unsere Kinder aufwachsen sehen, haben unzählige Feste gefeiert und zusammen gelacht. Das war eine herrliche Zeit!
«Jetzt hät doch dä Opa na d’Schue vergässe.»
Als mein Mann starb, war ich sechzig Jahre alt. Ich habe damals wieder Autofahren gelernt, damit ich zum Camping fahren konnte. Die Prüfung hatte ich schon lange, und früher bin ich viel Auto gefahren, bis ich meinen Mann kennenlernte. Er war ein sehr ungeduldiger, um nicht zu sagen, unmöglicher Beifahrer, und kommentierte jedes Manöver meinerseits. Irgendwann habe ich ihm dann einfach das Steuer überlassen, um meine Nerven zu schonen.
Leider hat mein Mann durch seinen frühen Tod nur zwei seiner jetzt fünf Enkel kennenlernen dürfen. Doch diese beiden Buben haben ihn sehr geliebt. Als er starb, habe ich ihnen gesagt, dass der Opa jetzt im Himmel ist. Ein Enkel hat die Schuhe meines Mannes angeschaut, die noch im Gang standen und verwundert gesagt: «Jetzt hät doch dä Opa na d’Schue vergässe.»
Wenn wir später auf den Friedhof gingen, habe ich nie gesagt, dass wir das Grab meines Mannes besuchen würden. «Wir besuchen den Garten von Opa», sagte ich jeweils, «dort können wir an ihn denken.»