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«Dass mein Mann als Doppelagent gearbeitet hat, davon hatte ich keine Ahnung.»

Frau S. Lier

Ich habe viele Male in meinem Leben neu angefangen und Altes hinter mir gelassen. Das hat mich innerlich leicht und heiter gemacht. Ich könnte auch verbittert sein und mich grämen – doch ich sage mir immer: «Chasch en Lätsch schniide oder lache, d’Wahl liit bi dir».

Mein Leben war schon ziemlich verrückt. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich es manchmal selbst kaum fassen, was alles geschehen ist.

1925 bin ich unehelich in Italien geboren worden. Meine Mutter arbeitete damals beim Schweizer Konsulat als Kindermädchen. Meinen biologischen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war der Sohn einer angesehenen Anwaltsfamilie in Catania. Als seine Eltern vom «Fehltritt» ihres Sohnes erfuhren, haben sie ihn ruckzuck nach Schweden verfrachtet. So konnte er nicht mehr in der Nähe eines einfachen Schweizer Kindermädchens sein.

Nach meiner Geburt hat meine Mutter mich einer Amme überlassen und ist nach Rom gezogen, um beim Schriftsteller Luigi Pirandello als Kindermädchen zu arbeiten. Die Amme, die zur gleichen Zeit wie meine Mutter ein Kind geboren hat, hat mich 9 Monate lang gestillt. Ich bin also nicht mit Muttermilch aufgezogen worden, sondern mit Ammenmilch. Das war dazumal nichts Ungewöhnliches. Es gab viele Frauen, die Ammen waren und so etwas Geld verdienten. Nach neun Monaten hat meine Mutter mich bei der Amme abgeholt und ging mit mir in die Schweiz zurück. Wir lebten bei meinen Grosseltern, die uns mit offenen Armen empfangen haben. Dass meine Mutter ein uneheliches Kind hatte, hat sie nie gestört – und das im Jahre 1926!

Mein Grossvater war Fuhrmann der Stadt Winterthur und besass ein kleines Kolonialwarengeschäft an der Neustadtgasse. Ich kann mich an jene Zeit mit meinen Grosseltern natürlich nicht erinnern, sondern weiss es nur aus Erzählungen meiner Mutter. – Es hat sie dann bald wieder nach Sizilien gezogen, meine Mutter, als Hausdame zu Mrs. Gardener, einer Schwester der Schauspielerin Eva Gardener. Ich war damals knapp zwei Jahre alt und wir lebten in einem riesigen Haus in San Mazzaro, direkt am Meer. Ich wurde immer streng bewacht, da ich ein blondlockiges Mädchen war, hatte ich quasi Bodyguards am Strand. Entführungen gab es damals viele, und auch Piraten, welche mit ihren Booten an den Strand kamen, Leute überfielen und wieder abhauten.

Wenn ich das heute meinen Urenkeln erzähle – oder gar meinem Ururenkel – so glauben sie mir das nicht und denken, dass die alte Oma eine wilde Phantasie hat. Doch so ist es gewesen. Es gab sie noch, die Piraten, damals!

Als ich drei Jahre alt war, sind wir wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Mein Grossvater hatte unterdessen einen Bauernhof in Oberseen gekauft, um Platz zu schaffen für seine grosse Familie. Er liess sich auch frühzeitig pensionieren, um mehr Zeit für seine Enkel zu haben, denn die Schwester meiner Mutter hatte fast zur selben Zeit wie meine Mutter ein Büblein geboren, ebenfalls unehelich. – Und so waren wir bald alle unter einem Dach versammelt; meine Grosseltern, meine Mutter und ihre drei Geschwister, zwei Kleinkinder und meine Urgrossmutter. Wir lebten quasi als Selbstversorger; Gemüse, Früchte, Fleisch und Eier, alles gab es bei uns auf dem Hof. Den Sommer über waren wir beschäftigt mit Einmachen, Trocknen und Sterilisieren für den Winter.

An Sonntagen, wenn auch noch andere Verwandte auftauchten, waren wir manchmal 20 Personen am Tisch. Meine Kindheit und Jugend erlebte ich wie in einem dieser Filme über italienische Grossfamilien; viel Lachen, Geborgenheit und geballtes Leben. Und ich schaue nicht mit der rosaroten Brille zurück, überhaupt nicht! Für mich war es damals selbstverständlich, so aufzuwachsen, mit soviel Liebe. Erst im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, wie aussergewöhnlich das war.

Einen Vater habe ich nie vermisst. Ich hatte ja meinen Grossvater, der nebst meiner Mutter der wichtigste Mensch in meinem Leben war. Soviel habe ich gelernt von ihm, soviel Zeit hat er sich immer für mich genommen. Wir machten lange Waldspaziergänge und redeten über Gott und die Welt. Er war ein Philosoph, mein Grossvater, er wusste genau, worauf es im Leben wirklich ankam: da zu sein, wo man wirklich gebraucht wurde, Familie, Zusammenhalt und Liebe.

In der Schule wurde ich oft gehänselt, da ich ja unehelich war. «Du häsch ja nid emal en Vater», hiess es dann. «Ich han scho en Vater, ich känn en nur nid», habe ich jeweils geantwortet. Es hat mich aber nicht verletzt oder traurig gemacht. Ich hatte ja meine Familie, und mein Grossvater war der beste Vater-Ersatz, den ich mir wünschen konnte. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mir gegenüber je laut geworden wäre oder geschimpft hätte. Nur beim Jassen, da wurde jeweils gestritten, was das Zeugs hielt. Ansonsten war er ein sehr sanftmütiger Mensch.

Meine Mutter war Sekretärin bei der Gärtnerei Lattmann. Ich verbrachte fast jeden Mittwochnachmittag dort, in der Baumschule. Noch heute weiss ich, wie man Rosen okuliert. Das ist ähnlich, wie wenn Bäume gezweit werden. Man veredelt die Wildrosen, indem man ihnen mit feinen Schnitten Zweige von Edelrosen aufpfropft. Das durfte ich jeweils tun am Mittwochnachmittag; ich bin sicher, ich könnte es noch heute.

Später, als ich in die 4. Klasse kam, ist meine Mutter nach Guntalingen, den ursprünglichen Heimatort meiner Familie, gezogen und hat dort die Volg-Filiale übernommen. Die Mädchen in meiner neuen Klasse redeten damals viel vom «Züri-Ernst». Das war ein Junge, etwas älter als wir, der am Wochenende jeweils seine Tante in Guntalingen besuchte. Da er immer so fein und schick angezogen war, schwärmten alle für ihn. Ich sehe es noch vor mir, als sei es gestern gewesen: ich war mit meinem Chessi auf dem Weg zum Bauern, um Milch zu holen, als plötzlich besagter Züri-Ernst vor mir stand. Es durchfuhr mich wie ein Blitz, ich kann es nicht anders beschreiben. «Dä wird emal min Maa sii» - diese Gewissheit spürte ich ganz tief in mir. Und damals war ich gerade mal 11 Jahre alt!

Meine Mutter heiratete etwas später den Chauffeur der Gärtnerei Lattmann, und wir kehrten zurück nach Winterthur. Sie kauften ein Haus neben meinen Grosseltern, und so war die Familie wieder vereint. Manchmal ging ich am Wochenende zu meinen Verwandten nach Guntalingen, um beim Heuen oder sonstigen Arbeiten zu helfen. Mein Schlafzimmer befand sich oben in einem angebauten Bauernhaus und lag nahe an dem vom Züri-Ernst. Wir haben uns aus dem Fenster gelehnt und nächtelang geredet und diskutiert. Wir waren einfach auf der gleichen Wellenlänge.

Später verloren wir uns aus den Augen. Nach der Sekundarschule ging ich ins Welschland, als Au-pair. Ich hatte Freude an Kindern, an Menschen überhaupt, und hätte gerne einen Beruf in dieser Richtung erlernt. Handarbeitslehrerin oder Kindergärtnerin, das wäre mein Traum gewesen. Meine Mutter jedoch wollte mich unbedingt in einem Büro sehen und «Zahle biige», als ob das etwas für mich gewesen wäre…

Nach einem halben Jahr im Welschland ging ich zurück, um in Guntalingen den obligatorischen Landdienst zu leisten. Der ging drei Wochen lang und anschliessend musste man zum Gemeindepräsidenten, um sich die geleistete Dienstzeit schriftlich bestätigen zu lassen. Es war die 2. Mobilmachung, 1940, und alle Männer, ausser den ganz Alten, waren eingezogen worden. Die Dörfer wurden fast nur noch von Frauen und Kindern bewohnt. Es herrschte damals grosse Angst. Im Stammertal vielleicht noch mehr als anderswo. Wenn wir am Rhein waren, sahen wir die vielen deutschen Soldaten auf der anderen Seite. Wir waren sicher, sie würden jeden Moment den Fluss überqueren.

Dann begann ich mit der Handelsschule, in Winterthur, gleich neben dem Technikum. – Und wer studierte am Technikum? Der Züri-Ernst! So haben wir uns wieder getroffen. Den Landdienst leisteten wir von dort an gemeinsam, natürlich in Guntalingen.

Einige Jahre später haben wir geheiratet und sind ins Tessin gezogen. Bald war ich schwanger mit meinem ersten Kind, einem Buben. Das tönt nach einer richtigen Liebesgeschichte, oder? - War es leider nicht. Ich war naiv, gutgläubig, ein richtiges Landei halt. Ich habe nie genau gefragt, was und wo der Ernst eigentlich arbeitet. Er blieb oft lange weg und reiste viel nach Italien. Wir lebten auf grossem Fuss und zogen bald um nach Lugano. Er war ja Chemiker, der Ernst, und hatte ein eigenes Labor, in dem er, wie er sagte, Sacharin produzierte. Einmal fand ich eine Handvoll Rohdiamanten in seiner Manteltasche. Ich ahnte, dass er in kriminelle Machenschaften verwickelt war – dass er aber, wie sich später herausstellte, auch als Doppelagent gearbeitet hat, davon hatte ich wirklich keine Ahnung.

Später nahm ich meinen Sohn und bin zurück nach Winterthur, um hochschwanger wieder bei meiner Mutter einzuziehen. Vom Züri-Ernst habe ich mich scheiden lassen. Er hat einen grossen Berg Schulden hinterlassen und sich später nach Brasilien abgesetzt, um dort wieder eine Familie zu gründen.

Ohne meine Mutter und meine Verwandtschaft, die für die Kinder und mich da waren, hätte ich es nicht geschafft. Ich fand eine Stelle als Sekretärin beim Fürsorgeamt Winterthur, so konnte ich meine KV-Ausbildung und meinen Wunsch, mit Menschen zu tun zu haben, miteinander verbinden. Einen Luxus aber habe ich mir und den Kindern all die Jahre hindurch gegönnt, und das war eine Woche Skiferien in Wildhaus. Wir hatten immer das gleiche Zimmer bei einem Bauern, und haben uns schon Monate im Voraus darauf gefreut. Ja das waren schöne Zeiten, anstrengend, aber schön!

Als meine Kinder fast erwachsen waren und ihren eigenen Weg machten, habe ich leider nochmals geheiratet, den Hans, einen ehemaligen Nachbarn von mir. Ich sage «leider», weil es keine gute Ehe war, ich habe mich überreden lassen. Der Hans hat 2 Jahre lang um mich geworben, da bin ich halt weich geworden und habe Ja gesagt. Das war ein grosser Fehler!

Doch was bringt es einem, im Nachhinein zu jammern? Gar nichts! Ich weiss nur noch, dass ich mich leicht wie eine Feder fühlte, als ich nach 10 Jahren die Scheidung einreichte.

So, und jetzt bin ich hier, mit 96 Jahren, im St. Urban, wo ich mich sehr wohl fühle. Vielleicht auch, weil ich gut loslassen kann. Ich habe viele Male in meinem Leben neu angefangen und Altes hinter mir gelassen. Das hat mich innerlich leicht und heiter gemacht. Ich könnte auch verbittert sein und mich grämen – doch ich sage mir immer: «Chasch en Lätsch schniide oder lache, d’Wahl liit bi dir».

Was mir wichtig ist? Nicht zu moralisieren und andere Menschen zu beurteilen oder in Schubladen zu stecken. Nicht das Gefühl zu haben, ich wüsste es besser als andere, weil ich schon so vieles erlebt habe. Das ist nicht der Fall!

Aufgezeichnet von Maja Friolet Dahinden