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«Mit 80 Jahren habe ich angefangen, Gitarre zu spielen. Etwas Neues zu lernen gehört für mich auch zum «beweglich sein» dazu.»

Herr F. Salvadé

«Meine Söhne haben studiert, sie sind beide 10 Jahre länger zur Schule gegangen als ich. Das macht mich natürlich sehr stolz auf sie. Es gibt aber auch ein Wissen, das nur aus Erfahrung gewonnen wird, und nicht auf der Schulbank. – Eigen erlebtes und geprüftes Wissen.»

Im Himmel muss es schön sein, dessen bin ich mir sicher. Und wenn es einen Vorhimmel gibt, dann befinde ich mich jetzt darin, hier im St. Urban. Meine Engel sind die Angestellten und meine Mitbewohner. Ich schätze mich sehr glücklich, hier sein zu dürfen. Ich geniesse den freundlichen Kontakt und ebenso die Möglichkeit des Rückzugs. Meine Frau ist vor 25 Jahren verstorben und seither lebte ich alleine. Da fühlt man sich manchmal schon einsam. Obwohl, ich kann gut mit mir allein sein. Mit meinen Büchern und meinen Gedanken. - Ich weiss nicht, wie andere Menschen denken. Doch ich denke in Bildern. Wenn mir jemand etwas erzählt, wenn ich lese oder nachdenke, dann läuft immer ein ganzer Film vor meinem inneren Auge ab. Manchmal sind es auch nur Sequenzen, einzelne Bilder, wie Puzzlestücke, die dann irgendwann ein Bild ergeben – oder auch nicht.

Ich bin vor einigen Monaten nach einem Spitalaufenthalt im St. Urban gelandet. Ich weiss, es hat diesen Spitalaufenthalt gebraucht, damit ich mich fürs Altersheim entscheiden konnte. Es ist der beste Entscheid, den ich seit langem getroffen habe.

Ich bin 86 Jahre alt und körperlich wieder ziemlich fit. Mir ist es wichtig, beweglich in jeglicher Hinsicht zu bleiben. Bewegung ist so elementar wie Essen oder Trinken. Wer rastet, der rostet! Und so stehe ich täglich um 5 Uhr auf und absolviere eine Stunde lang meine Turnübungen.

Mit 80 Jahren habe ich angefangen, Gitarre zu spielen. Etwas Neues zu lernen gehört für mich auch zum «beweglich sein» dazu, es hat viel mit geistiger Flexibilität zu tun, und natürlich mit Freude. Eine Gitarre ist für mich halt noch ein richtiges Musikinstrument!  Eines, welches ohne Ventile, Technik und Tasten auskommt; ein paar gespannte Drähte und ein Resonanzkörper, fertig! Diese Einfachheit fasziniert mich.

Grosse Reisen habe ich nie unternommen. Das hat mich nicht interessiert. Überall, so denke ich, hat es Pflanzen, Tiere, Menschen und schöne Landschaften oder Städte. Wozu die Luft verpesten, um irgendwo hinzufliegen, wo ich hier doch auch alles habe und geniessen kann? Dazu kommt noch, dass ich nicht gerne in der Luft bin oder auf dem Wasser. Ich stehe am liebsten mit beiden Beinen auf dem Boden.

Meine beiden Söhne, die sind in der ganzen Welt herumgereist. Einer von Ihnen verbrachte auch lange Zeit in Australien. Doch wenn ich sie frage, wo Agasul liegt - da haben sie keine Ahnung. So sind die Menschen eben; immer möglichst weit wegfahren, doch von dem, was vor der Haustüre liegt, wissen sie nicht viel.

Von meinem Wissen habe ich mir das Meiste selbst beigebracht. Mit 14 Jahren musste ich von der Schule weg und auf dem Bau arbeiten. Ich habe dann in verschiedenen Berufen gearbeitet, unter anderem war ich neun Jahre lang bei der Post, als Allrounder. Dort habe ich auch meine zukünftige Frau kennengelernt, sie arbeitete am Schalter und war immer so freundlich und herzlich zu den Leuten, die kamen. Und so war sie auch zu mir. Ich hatte eine ganz liebe Frau. Dass meine Söhne so gut herausgekommen sind, ist sicherlich ihr Verdienst,  nicht meiner.

Aufgewachsen bin ich in Näfels, im Kanton Glarus. Wir waren sechs Kinder, drei Buben, drei Mädchen – meine Zwillingsschwester und ich waren genau in der Mitte. Es ist wunderbar, so aufwachsen zu dürfen, in einem Rudel Geschwister, in dieser Geborgenheit. Vom materiellen Standpunkt aus waren wir bitter arm. So richtig arm. Mein Vater, ein gebürtiger Tessiner, arbeitete 55 Stunden in der Woche auf dem Bau, um uns durchzubringen. Doch meine Eltern waren liebevoll, trotz des wirtschaftlichen Drucks, ich hatte eine wunderbare Kindheit. Meine Mutter war ein richtiges Goldstück. Ich liebe es, an meine Kindheit zu denken und mir dabei den inneren Film anzuschauen. Das war eine schöne Zeit und die Erinnerung daran hat mir stets Kraft gegeben in meinem Leben.

Zwei meiner Schwestern sind unterdessen verstorben. Mein ältester Bruder lebt in Préverenges am Genfersee, ihn besuche ich jeden Monat. Sechs Stunden lang Zug zu fahren ist zwar nicht mein Hobby, aber was sein muss, muss sein.

Beruflich habe ich lange nirgends richtig Fuss fassen können. Mir ist es so vorgekommen, als sei ich herum geschoben worden, von einem Job zum nächsten. Ich konnte nur reagieren, nicht agieren. Als ich 28 Jahre alt war, hat sich alles geändert! Ein alter Bekannter fragte mich, ob ich nicht einen Arbeitswechsel möchte, er könne mir einen Job vermitteln bei der Winterthur-Versicherung. Daraufhin habe ich mich entschlossen, ohne jegliche Vorkenntnisse, EDV-ler zu werden. - Informatik wurde zu meiner Leidenschaft. Bei der Winterthur-Versicherung habe ich mich hochgearbeitet; ich war IT-Programmierer, Analyst und später Projektleiter. Im Selbststudium habe ich mir das Grundwissen selbst beigebracht. Ich kaufte zahlreiche Bücher und bildete mich so weiter.

Eine 50-Stunden Woche gehörte für mich zum Alltag; ich habe extrem gerne gearbeitet. Von meinem Gefühl her «besass» ich diese Firma, sie gehörte zu mir und ich war ihr während fast 40 Jahren sehr verbunden. Ich habe alles reingesteckt, was ich konnte, an Zeit und Arbeit. Und das leidenschaftlich gerne. Man muss etwas mit Freude tun oder gar nicht, das ist einer meiner Wahlsprüche.

Bevor ich etwas Neues entwickelte, habe ich viel mit Menschen geredet, habe nachgefragt, bin auf Bedürfnisse eingegangen. – Leider ist Informatik unterdessen ziemlich seelenlos geworden, dabei ist es ein höchst kreatives und kommunikatives Gebiet. Heute wird nur noch entwickelt und hergestellt was das Zeugs hält.

Im Betrieb habe ich immer gute Beziehungen gepflegt zu meinen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. So wie ich möchte, dass man mit mir umgeht, so gehe ich auch mit Anderen um, wertschätzend und freundlich. - Das kommt immer zurück zu einem, es ist wie ein Bumerang. Aus der IT-Branche und aus meinem Leben habe ich gelernt: es gibt nicht nur eine richtige Lösung – es gibt hundert richtige Lösungen, es ist allein die Optik, die Einstellung, die zählt.

Ich habe sehr viel Glück gehabt im Leben. Vielleicht auch, weil ich ein positiv denkender Mensch bin. Mit negativem Denken schadet man nur sich selbst und anderen; auch mit Selbstmitleid, das ist das Schlimmste. Es schwächt und man braucht viel Kraft, um wieder hinauszufinden. Ich habe zum Beispiel seit vielen Jahren chronisches Vorhofflimmern. Nun, ich würde nie sagen: «Ich bin krank». Ich sage: «Dies ist ein Zustand, keine Krankheit.» Das ist ein grosser Unterschied.

Aufgezeichnet von Maja Friolet Dahinden