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«Mit achtzehn ging ich für zwei Jahre ins Welschland - das waren kostbare, unvergessliche Jahre für mich.»

Frau M. Schmocker

Corona ist meiner Meinung nach noch schlimmer als der Krieg, da der soziale Kontakt verloren geht. Zu Kriegszeiten sind wir alle näher zusammengerückt. Haben zusammengehalten und uns gegenseitig unterstützt. Wenn beim Nachbarn das Essen knapp wurde, hat man ihm zwei Eier gebracht oder hat wieder den Tauschhandel eingeführt. Die Familien waren zusammen im Haus und sie konnten reden und Spiele spielen.

Aufgewachsen bin ich in Celerina im Bündnerland, als Jüngste von vier Kindern. Meine Eltern waren beide 46 Jahre alt, als ich auf die Welt kam. Sie wollten mich eigentlich nicht mehr, vor allem mein Vater nicht, doch ich habe nie etwas davon gemerkt, das habe ich erst später erfahren. Ich wurde sogar sein Lieblingskind, mit mir hat er viel Zeit verbracht. Ich erinnere mich an lange Spaziergänge mit meinem Vater, an Eichhörnchen, die wir beobachtet haben, an Vögel und Hirsche. Er war sehr gerne in der Natur unterwegs. Gearbeitet hat er als Concierge im Hotel Schweizerhof, bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Danach wurden alle Hotels geschlossen und mein Vater kam zur Fliegerabwehr nach St. Moritz.

In diesem Haus bin ich aufgewachsen.
Im Winter 1935 mit dem Geschwistern vor dem Elternhaus.

Ich erlebte eine wunderschöne Jugend. Im Sommer hatten wir jeweils vier Monate schulfrei, von Ende Mai bis Anfang Oktober. Was war das für eine herrliche Zeit! Am Abend trafen wir Kinder uns auf dem Dorfplatz, um Verstecken zu spielen oder auf Schnitzeljagd zu gehen. Damals war einfach alles offen, wir durften in jedes Haus hinein, in jeden Stall und in jeden Heuschober. So hatten wir das ganze Dorf als unseren Spielplatz, und die Wälder und Wiesen ringsherum. Es gab ja auch kaum Autos zu jener Zeit – und wenn mal eines kam, wurde es gebührend bestaunt. Im Winter schlittelten wir die Hauptstrasse von St. Moritz nach Celerina hinunter, heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. Einige Väter waren Skilehrer und Bergführer, und so haben die meisten von uns Skifahren gelernt, als sie noch ganz klein waren. Natürlich gab’s damals noch keine Skilifte. Wir verbrachten viele Nachmittage damit, die Pisten zu präparieren, indem wir hintereinander mit unseren Skiern den Hang hinaufstapften, bis der Schnee hart wurde und wir hinuntersausen konnten.

Mit Fell an den Skiern sind wir hochgewandert und runtergefahren durch den frischen Schnee.
Es gab damals noch keine Skilifte.

In meiner Jugend war Kinderlähmung weit verbreitet. Es gab noch keine Impfung dagegen. Alle paar Jahre schwappte eine Welle von Polio über die Dörfer im Engadin und viele Kinder und auch Erwachsene waren davon betroffen. Meine Schwester erwischte es stark, sie blieb an den Beinen gelähmt und war Zeit ihres Lebens auf den Rollstuhl angewiesen. Ich habe sie immer bewundert. Sie war mein grosses Vorbild. Alles musste sie sich selbst erkämpfen, mit viel Einsatz und Energie. Doch nie ist sie in Selbstmitleid versunken, sie hat ihre Situation angenommen und das Beste daraus gemacht. Schlussendlich ist sie sogar Lehrerin geworden, das war ihr grosser Traum.

1933 - Hier bin ich mit meiner grossen Schwester Anna Lina auf der Wiese. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits gelähmt und hatte die Beine eingeschient.


Mit 16 bin ich als Haushaltlehrtochter nach Zürich gegangen, in ein Altersheim. Ich war in der ersten Zeit kreuzunglücklich, ich weiss noch, wie ich am Trog stand und weinte, weil ich mich so einsam fühlte. Meine Muttersprache ist rätoromanisch- die anderen Mädchen waren alles Bernerinnen, ich habe kein Wort verstanden von dem, was sie sagten. Doch dann habe ich Dorli kennengelernt. Sie war als Köchin dort und wurde meine beste Freundin. Zeitlebens hat diese Freundschaft gehalten, 70 Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Ich weiss noch, wie wir stundenlang die gusseisernen Pfannen schrubbten, bis wir ganz aufgeweichte Hände hatten. Und immer haben wir gesungen dabei. Das war das Schönste - zusammen zu singen, zweistimmig. Dorli war ein gläubiger Mensch, so wie ich. Aber von der lebensfrohen, offenen Art. Sie hat mir damals gesagt, dass das Wichtigste im Leben die Freude sei. «Du musst mit Freude arbeiten», meinte sie, «nur mit Freude kannst du wirklich dienen». Das ist mir geblieben, es ist mein Lebensmotto geworden. Als mein vereinbartes Jahr als Haushaltlehrtochter vorbei war, bin ich gleich nochmals ein Jahr geblieben – Dorli und der Freude wegen!

Mit achtzehn ging ich für zwei Jahre ins Welschland, um französisch zu lernen. Ich kam zu einer Familie Emerson, nach Lausanne. Dies erwies sich als glückliche Fügung - nein, weit mehr als das: es war ein Geschenk des Himmels. Wahrscheinlich hat nichts mein Leben so stark geprägt wie diese Zeit damals, mit diesen Menschen. Die Emersons waren eine Arztfamilie, weltoffen, liebevoll und vorbildliche Christen, so richtig vom Herzen her. Das grosse Haus war immer voller Menschen: Ärzte aus Indien, Missionare aus Afrika, stets waren Gäste da aus aller Welt, es wurde spanisch, französisch und englisch gesprochen und mir tat sich eine völlig neue Welt auf. Am Abend sassen alle an einem ellenlangen Tisch, wir haben diskutiert, gegessen und gelacht – eigentlich war es immer ein Fest. Und stets war ich mit dabei, bei allen Unternehmungen und Anlässen, ich gehörte ganz schnell zu dieser Familie, die keinerlei Standesdünkel oder Arroganz kannte. Sie haben all das vorgelebt, was wirklich zählt: Gastfreundschaft, Verbundenheit, Weltoffenheit, Menschlichkeit und Lebensfreude. Ich konnte so viel von ihnen lernen. Das waren kostbare, unvergessliche Jahre für mich. Später, nach einem Abstecher nach England, habe ich mich im «Lindenhof» in Bern zur Krankenschwester ausbilden lassen. Als ich mein Diplom in der Tasche hatte, ging’s zurück Richtung Heimat, ins Engadin. Ich wollte in der Nähe meiner Mutter sein, um sie im Alter besser unterstützen zu können und arbeitete einige Jahre im Spital von Samedan.

Wertvolle Erinnerungen im Fotoalbum.
Ich als Krankenschwester 1958.

Meinen zukünftigen Mann lernte ich in einem Leiterkurs für Bibelkunde im Tessin kennen. Wir mussten uns zu zweit verschiedenen Aufgaben widmen. Wer mit wem gemeinsam arbeitete, wurde per Los entschieden. Mein Mann und ich sind so quasi zusammengewürfelt worden - und wir blieben zusammen. Später haben wir uns in Lenzburg niedergelassen. Mein Mann arbeitete als Maschineningenieur in der dortigen Konservenfabrik. Wir haben zwei Kinder bekommen, einen Sohn und eine Tochter. Meinen Beruf als Krankenschwester musste ich an den Nagel hängen; damals gab es noch keine Teilzeitanstellungen. Trotzdem blieb ich weiterhin als Krankenschwester tätig, denn meine Mutter und ihre Schwester waren beide pflegebedürftig geworden. Nachdem wir ein Haus gebaut hatten, um genügend Platz zu haben, holten wir sie aus dem Engadin zu uns nach Lenzburg. Ich wollte sie nicht in einem Pflegeheim wissen und so konnte ich bis zu ihrem Tod bei Ihnen sein.


Auch meinen Mann habe ich in seinen letzten Wochen gepflegt. Er ist jung gestorben, mit 46 Jahren, an Krebs. Er hatte keinerlei Beschwerden oder Schmerzen und kurz vor dieser Diagnose sind wir noch wandern gegangen, die ganze Familie. Eine 5-tägige Tour war es, von Hütte zu Hütte. Ich bin sehr dankbar für diese letzten unbeschwerten Ferientage, die wir als Familie gemeinsam erlebten. Mein Mann hat danach nur noch wenige Monate gelebt. «Von jetzt an müssen sie als Krankenschwester für ihren Mann da sein», sagte mir sein behandelnder Arzt. Ich habe meinen Mann bis zu seinem Tod zuhause gepflegt. Damals habe ich gelernt, wie wichtig es ist, die Trauer rauszulassen. Ich bin in den Wald gegangen und habe geweint, wenn mir danach zumute war, immer wieder, bis keine Tränen mehr kamen. Und ich habe es geschafft, nicht in Selbstmitleid zu verfallen, das habe ich, wie gesagt, von meiner Schwester gelernt.

In Lenzburg war ich sehr engagiert in der Schulpflege. Ich habe mich besonders dafür eingesetzt, dass Kinder mit einer Behinderung im Kindergarten besser betreut werden; daraufhin wurde die Sonderschule gegründet. Früher, als ich jung war, hat man behinderte Kinder oft versteckt, weil man sich ihrer geschämt hat. Dieses Thema war einfach sehr wichtig für mich als direkt Betroffene, da ich ja auch mit einer behinderten Schwester aufgewachsen bin. 

Und genau dieses Thema hat mich später auch wieder eingeholt, als eine meiner Enkelinnen mit einer schweren Behinderung auf die Welt gekommen ist. Sie hat mit ihrer Familie in Winterthur gelebt, und ihretwegen, das heisst, um meine Tochter zu unterstützen, bin ich dann nach Winterthur gezogen. Da hat sich das Altersheim als ideal erwiesen, da es sehr nahe am Zuhause meiner Tochter liegt. Meine Enkelin ist vor einem Jahr gestorben, im November 2019.

Ich würde mich als gläubigen Menschen bezeichnen. Was nicht heisst, dass ich nicht auch manchmal hadere. Dann sage ich zu Gott: «Vater, wenn es dich wirklich gibt, hast du sicher Verständnis dafür, dass ich manchmal an Dir zweifle.»

Aufgezeichnet am 09.09.2020 von Maja Friolet Dahinden

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