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«Ich liebe die österreichischen Komödien, den Wiener Schmäh und die Walzer.»

Frau H. Trieblnig

Als junges Mädchen liebte ich Western. Ich wollte unbedingt einmal nach Amerika und den Grand Canyon sehen. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. In meinem Zimmer hängen Bilder von Canyons, die mein Mann damals fotografiert hat; es war die schönste Reise meines Lebens.

Es hat einiges gebraucht, bis ich mich dazu entschliessen konnte, ins Altersheim zu ziehen. Bis vor kurzem lebte ich noch in unserem Haus in der «Breite» - bis ich dreimal hingefallen bin und auch nicht mehr die Treppe hochgehen konnte ins Schlafzimmer. Am Schluss stand mein Bett in der Stube, und das kann es ja auch nicht sein, oder?
Hier bin ich mich immer noch am eingewöhnen.

Ich bin 1934 geboren und war die Älteste von drei Kindern. Meine Schwester und mein Bruder leben beide noch. Ich selbst habe ebenfalls drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Eine meiner Töchter hat bereits die AHV, es ist ziemlich seltsam, das sagen zu können.
Ausserdem habe ich zwei Enkelinnen und zwei Urenkelinnen.

Ich bin sehr dankbar für meine Familie. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht in Kontakt sind miteinander - manchmal telefonisch oder per SMS, manchmal kommt jemand vorbei. Zu meinen beiden Enkelinnen spüre ich eine tiefe Verbindung. Als kleine Kinder waren sie oft bei uns; wir durften ihr Aufwachsen miterleben und so ist die Beziehung gewachsen.

Ich war früher sehr fit und bin viel gewandert und geschwommen. Jetzt sitze ich im Rollstuhl und meine Arme und Hände zittern. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn einen der Körper so nach und nach im Stich lässt. Ich beobachte das einfach an mir, ziemlich nüchtern, denke ich; weder selbstmitleidig noch traurig. Ich bin eigentlich ganz zufrieden. Manchmal denke ich schon, ich hätte mehr tun können in meinem Leben, mehr Reisen, zum Beispiel. Aber ob mich dieses «mehr» glücklicher gemacht hätte? Ich weiss es nicht.

Ich hatte ein gutes Leben und einen lieben Mann. Er ist vor drei Jahren gestorben, am Schluss war er dement und ich habe ihn gepflegt. Ich glaube, nur jemand, der ähnliches erlebt hat, kann wissen, wie das ist: einen geliebten Menschen so langsam zu verlieren und mitzuerleben, wie alle Erinnerungen und auch Teile seines Wesens nach und nach erlöschen.
Mein Mann kam aus Kärnten und dort hat jeder Name ein «-nig» am Schluss, darum Trieblnig. Ich liebe die österreichischen Komödien, den Wiener Schmäh und die Walzer.
Aber noch mehr mag ich Filme; Western oder die alten amerikanischen «Schinken» mit Gregory Peck oder James Stewart, die kann ich mir immer wieder anschauen. Den Klassiker «Spiel mir das Lied vom Tod» habe ich mindestens zehnmal gesehen!

Meine Freude an Western hat in London begonnen. Als junges Mädchen lebte ich dort für ein Jahr und arbeitete als Au-pair. «Geh’ ins Kino», sagte meine Madame zu mir, «am besten lernt man die Sprache dort». Das liess ich mir nicht zweimal sagen, und recht hatte sie. Noch heute mag ich englisch sehr gerne, den Klang der Sprache.
Während dieses London-Jahrs fuhr ich immer mit der U-Bahn und kannte die Stationen bald auswendig. - 50 Jahre später reiste ich mit meinem Mann nach London, zum ersten Mal seit damals. Da wusste ich immer noch, welche Tube wir nehmen und an welchen Stationen wir umsteigen mussten. Da hat er schön gestaunt – und ich auch!

In einem der Kinofilme von damals habe ich zum ersten Mal den Grand Canyon gesehen. Ich weiss noch, wie überwältigt ich war von soviel Schönheit. Daraufhin habe ich alles über die Canyons gelesen, was ich nur konnte und mir Bilder angeschaut und ausgeschnitten. Es hat mich ergriffen. Mein grösster Wunsch war es, den Grand Canyon und die phantastische Landschaft einmal richtig zu sehen.

Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. In meinem Zimmer hier hängen zwei Bilder von Canyons an den Wänden, mein Mann hat sie fotografiert, als wir zusammen in Amerika waren. Zweimal sind wir dorthin gereist, einmal zum Grand Canyon in Arizona und einmal zum Bryce Canyon in Utah.

Es waren die zwei schönsten Reisen meines Lebens, sie haben mich aber auch einiges an Nerven gekostet. Mir wird sehr schnell schlecht; sobald ich in einem Bus, Zug oder Auto sitze – natürlich auch im Flugzeug – habe ich mit der Übelkeit zu kämpfen. Zum Glück habe ich mich dadurch nicht vom Reisen abhalten lassen.

Über den Grand Canyon sind wir sogar mit einem kleinen Flugzeug geflogen, es rumpelte und holperte in der Luft und einmal haben wir uns sogar die Köpfe angeschlagen an der Decke, weil wir in ein Luftloch sackten. – Mir war entsetzlich übel, aber dieser Blick von oben, den Grand Canyon in seiner ganzen Grossartigkeit zu sehen - das war unbeschreiblich und wunderschön.

Mein Berufswunsch wäre Stewardess gewesen, doch den konnte ich damals begraben, wegen der Reisekrankheit. Ich habe dann halt in verschiedenen Cafés gearbeitet, und so auch meinen Mann kennengelernt. Er war Techniker bei Sulzer. Dort hat er sein ganzes Leben lang gearbeitet.
Später, als ich Kinder bekam und ich zuhause war, arbeitete ich in Heimarbeit, für 1 Franken in der Stunde. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ich roulierte «Stoffel-Tüechli» ich weiss nicht mehr, ob es die noch gibt, das waren Einsteck- oder Taschentücher. Ich musste den Rand einrollen und ganz fein einnähen, alles von Hand, es gab noch keine Maschinen dafür.
Manchmal, als junge Frau mit drei Kindern, fühlte ich mich schon ziemlich überfordert. Damals haben die Männer, anders als heute, im Haushalt keinen Finger gerührt.

Später, als meine Kinder schon erwachsen waren, habe ich am Morgen jeweils in der Buchbinderei Weber gearbeitet. Dort wurden Kataloge gebunden, und wir mussten die Maschinen füttern mit den einzelnen Blättern. Am Nachmittag arbeitete ich im Geschäft einer Kollegin in Zürich. Damals war Glasritzen ein ganz grosser Boom. Alle haben Glas geritzt und Kurse besucht. Meine Kollegin hat diese Kurse gegeben und Sujets entworfen. Selbst haben wir auch Gläser geritzt im Geschäft, für den Verkauf. Das habe ich sehr gerne gemacht. Zuerst die Umrisse einer Blume, beispielsweise, ritzen und anschliessend ausschraffieren, alles mit dem Diamantschneider, auf welchen man verschieden grosse «Köpfe» aufschrauben konnte. Dieser Trend ist schon lange vorbei, eigentlich schade, es ist ein schönes Hobby und es beruhigt und macht einen zufrieden. Man sieht die schönen Dinge, die entstehen, durch die eigenen Hände. Das ist etwas Wunderbares.

Aufgewachsen bin ich in Döttingen, im unteren Aaretal. Meine Kindheit war geprägt vom Krieg. Die letzten zwei Kriegsjahre waren die Schlimmsten. Wir lebten in ständiger Angst. Die Flugabwehrtruppen hörten wir fast täglich und jeden Abend mussten wir die Fenster verdunkeln, als Schutz vor Fliegerangriffen, da wir so nahe an der Grenze lebten. Kein Lichtstrahl sollte nach aussen dringen. Es gab ein spezielles Papier, das dazu benutzt wurde, ähnlich wie Packpapier. Wir hatten auch Masken in jedem Haushalt, die Lonza-Werke waren ja ganz in der Nähe und die Gefahr gross, dass sie bombardiert werden könnten.

Mein Vater war im Krieg bei den Pontonieren. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, im Fall eines Angriffs der deutschen Truppen die Rheinbrücke bei Koblenz zu sprengen. Als Kind hatte ich fast jede Nacht Albträume deswegen. Ich habe von meinem Vater geträumt, der die Brücke sprengen musste und nicht schnell genug rennen konnte, als alles explodierte.

Ich hatte liebe Eltern, mein Vater war Hobbyfischer, und so hatten wir zuhause genug zu essen, auch während des Krieges. Meine Mutter, eine Bauerntochter, hat überall, wo sie konnte, Kartoffeln gepflanzt. Im ganzen Dorf wurden alle freien Gärten und Plätze mit Kartoffeln bepflanzt. Als Kinder sind wir mit dem «Leiterwägeli» losgezogen, um Holz zu suchen, im Sommer waren wir viel in den Wäldern unterwegs und haben Beeren gepflückt oder auf den Feldern Ähren gelesen.

Manchmal träume ich noch von dem vermeintlichen Erdbeben, das ich erlebte, als ich im Wald war und Beeren suchte. Ich spüre heute noch, wie der Boden gezittert hat und das Moos sich bewegt hat, ganz schnell vibriert hat alles. Doch das waren Bomben, die in der Nähe gefallen sind. Auch Flugzeuge wurden abgeschossen, allein im Kanton Aargau waren es drei. Die Überlebenden sind interniert worden, bis der Krieg zu Ende war. – An diesen Tag, an Kriegsende, erinnere ich mich ganz genau; ich war in der fünften Klasse als der Lehrer am Morgen die Klassentüre öffnete. Er stand ganz ruhig da, mit Tränen in den Augen, dann sagte er: «Der Krieg ist zu Ende, ihr könnt nach Hause.»

Aufgezeichnet von Maja Friolet Dahinden