Geschichte schliessen

«Wenn man älter wird, wird man nicht besser. Man hat nur weniger Zeit.»

Frau M. Vuagniaux

«Ich bin keine Kirchengängerin. Doch je älter ich werde und auf mein Leben zurückblicke, desto mehr bin ich davon überzeugt: Es gibt eine grosse Kraft, die alles lenkt – und da ist für uns. Jeder von uns hat eine Aufgabe im Leben. Menschen zu unterstützen, zum Beispiel, oder Anteil zu nehmen an ihrem Leben, sie aufzumuntern mit einem Lächeln. Das ist nicht schwierig.»

Ich glaube, dass wir in Situationen oder Herausforderungen geführt werden, um daran zu wachsen. Und dass es immer etwas Neues zu lernen gibt. Das hört nie auf. Momentan sitze ich zwar im Rollstuhl und bin auch schon ziemlich alt. Doch dass ich jetzt hier bin, im Altersheim, das hat einen Sinn, da habe ich etwas zu lernen – nämlich freundlich zu sein, geduldig und gelassen. Wenn man so viele Jahre wie ich allein gelebt hat, dann ist das Eingewöhnen an einen neuen Ort und das Zusammensein mit anderen Menschen nicht immer einfach.

Ich hatte beispielsweise vorher nie Kontakt mit Menschen, die an Demenz erkrankt waren, das gab es in unserer Familie zum Glück nicht. Doch hier begegne ich manchmal Menschen, die mir jeden Tag dasselbe erzählen. Anfänglich dachte ich, das halte ich nicht aus, da werde ich ja selber ganz konfus. Mittlerweile ist mir klar, dass ich hier wieder etwas lernen darf, nämlich mich nicht abzuschotten, sondern da zu sein und zuzuhören, denn jeder Mensch hat etwas zu erzählen, oder nicht? – Auch wenn es jeden Tag dasselbe ist.

Eine gute Kindheit macht satt fürs Leben
Ohne Verklärung oder etwas beschönigen zu wollen: Ich hatte eine wunderbare Kindheit und Jugend. Wenn man eine gute Kindheit gehabt hat, dann ist man satt fürs Leben, dann hat man einen Grundstock – und was auch immer später passiert, da wirft einen nichts so schnell aus der Bahn.

Wir waren zehn Kinder, acht Mädchen und zwei Buben.  Natürlich mussten wir alle mithelfen, wo es ging, jedes von uns hatte seine Aufgabe, sei es im Haushalt oder im Garten. Als Zweitälteste habe ich mich vor allem um die Kleinen gekümmert, ich wickelte und badete sie und gab ihnen den Schoppen. Wie habe ich das geliebt. Kleine Kinder, die nach Milch riechen – es gibt wohl nichts Schöneres.

Meine Mutter hat zuerst vier Mädchen gekriegt. Als dann der erste kleine Bruder kam – was war das für eine Aufregung! Wir vier Schwestern haben ihn sofort ausgepackt, wir wollten doch wissen, wie er drunter genau aussieht. – Diesen ersten Bruder haben wir Mädchen vergöttert, er war der Hahn im Korb. Der zweite kriegte schon nicht mehr so viel Aufmerksamkeit, die Begeisterung hatte sich gelegt.

Von den anderen Kindern wurden wir gemieden
Wir wohnten hier in Seen, in einem grossen Haus im Waldegg, und hatten einen entsprechend langen Schulweg bis ins Zentrum. Von den anderen Kindern wurden wir gemieden, heute würde man wohl gemobbt sagen. – Es beschäftigt mich manchmal noch heute, wie grausam Kinder untereinander sein können. Wir sind beispielsweise nie zu Geburtstagsfesten oder sonstigen Unternehmungen eingeladen worden, stets war da eine spürbare Ablehnung uns Kindern vom Waldegg gegenüber. Ich weiss bis heute nicht, was es genau war. – Vielleicht einfach die Tatsache, dass die meisten der anderen Kinder aus reichen Haushalten stammten und sie nur zu zweit oder zu dritt zuhause waren?

Ein Schulgspänli hat mich mal gefragt: «Warum haben deine Eltern eigentlich so viele Kinder?» Beim Nachtessen stellte ich diese Frage dann ebenfalls. Ich weiss noch, wie meine Eltern gelacht haben. Mein Vater sagte: «Das ist ganz einfach. Ich muss nur an ein Kind denken und schon ist deine Mutter schwanger.»

Meine Mutter hatte Hände wie eine Fee
Ich war ein richtiger Papahöck. «Du bisch min Sunnestrahl», sagte er immer zu mir. – Meine Mutter? Sie hatte Hände wie eine Fee, sie konnte zaubern mit diesen Händen. Die meisten unserer Kleider hat sie selbst gemacht, ich weiss noch, wie sie manchmal um Mitternacht noch Stoffe zurechtschnitt und nähte. Zu Weihnachten kriegten wir unsere Päcklis in zehn verschiedenen Geschenkpapieren eingepackt und mit speziellen Schlaufen versehen. Das vergesse ich nie. Es war ein Ausdruck dafür, dass meine Eltern jedes von uns Kindern als einzigartig betrachtet haben und nicht als Teil eines «Haufens». – Auch viele Jahre später habe ich die schönsten Geschenke stets von ihnen gekriegt.

Von diesen ehemals zehn Kindern leben heute nur noch fünf.

Pharmazeutik ist eine Leidenschaft von mir
Alle meine Geschwister und ich durften einen Beruf erlernen. Das war dazumal keine Selbstverständlichkeit. Vor allem nicht für Mädchen. Ich machte meine Lehre als Apotheker-Assistentin in der Sternenapotheke in Winterthur. Medikamente waren und sind eine Leidenschaft vom mir. Das ganze weite Feld der Pharmazeutik interessiert mich sehr. Ich weiss auch heute noch ein wenig Bescheid über Inhaltsstoffe und Wirkungsweisen der verschiedenen Medikamente, die mir verschrieben werden; da hat schon mancher gestaunt. Es ist einfach ein spannendes Gebiet. Anschliessend bin ich ins Welschland gegangen, um Französisch zu lernen, wie die meisten Mädchen jener Zeit. Geplant gewesen war ein Jahr - es wurden dreissig Jahre daraus.

Ob mit Trauschein oder ohne – ich wollte einfach mit diesem Mann zusammen sein
Mein zukünftiger Mann ist mir von Anfang an aufgefallen – weil er so schön war. Er hatte im selben Haus wie ich ein Studio gemietet, und ist mir so immer mal wieder über den Weg gelaufen. Er war einfach ein unglaublich gutaussehender Mann. Leider schien er mich überhaupt nicht zu bemerken. «Warum schaut er mich nicht an?» habe ich mich gefragt. Dann, eines Morgens, hat er mich doch wahrgenommen. Er kam auf mich zu und sprach mich an – und das war der Anfang unserer Liebe.

Anschliessend sind wir ziemlich rassig zusammengezogen – ohne verheiratet zu sein. Das war damals, in den 50-er Jahren, in der Deutschschweiz noch fast ein Verbrechen. Die Welschen betrachteten dies viel entspannter. Und mir war es sowieso egal – ob mit Trauschein oder ohne, ich wollte einfach mit diesem Mann zusammen sein. Meinen Eltern habe ich natürlich nicht erzählt, dass ich mit meinem Freund zusammen wohnte. Wir sind einfach immer zu ihnen zu Besuch gegangen, so dass sie nicht in Versuchung gerieten, uns zu besuchen – denn dann wäre es natürlich aufgeflogen. Später haben wir dann auch geheiratet, in Montreux.



Wie sehr haben wir uns Kinder gewünscht
Mit meiner grossen Familie im Hintergrund war es eine Selbstverständlichkeit für mich, dass ich Kinder kriegen würde. Doch es klappte einfach nicht. In den ersten Jahren unserer Ehe habe ich überall schwangere Frauen gesehen. Frauen mit Kinderwagen, Frauen mit Babys auf den Armen. Es war jedes Mal ein Schmerz für mich, weil ich mir das sehnlichst auch gewünscht hatte.

Ich liess mich dann medizinisch abklären und dabei wurde etwas an meiner Gebärmutter festgestellt, was operativ entfernt werden musste. Ich weiss noch genau, wie ich aus der Narkose erwachte und ein Arzt mir eröffnete, dass ich keine Kinder haben könne. Sie hatten mir die Gebärmutter herausnehmen müssen, zusammen mit einem grossen Tumor, der sie fast vollständig bedeckte. Ich brauchte lange Zeit, um das zu begreifen. Und noch länger, um es akzeptieren zu können.

Als erstes habe ich damals mit meinem Mann gesprochen. Ich wollte ihn freigeben. Ich wusste, wie sehr er sich ebenfalls eine Familie wünschte; und er war noch jung und sollte sich nicht an eine Frau gebunden fühlen, die ihm genau das nicht geben konnte. Ich werde nie vergessen, wie er mich in die Arme nahm. «Dann soll es nicht sein», hat er gesagt, «dann gehen einfach wir zwei zusammen durchs Leben. Das ist doch auch gut so.»

Als ob es nur aufs Geld ankäme, und nicht auf die Liebe
Später haben wir es noch mit einer Adoption versucht. Da gibt es viele Hürden, die man nehmen muss und viel Bürokratie: Leute die einen zu Hause aufsuchen, Dinge, die man offenlegen muss, unzählige Gespräche werden geführt, Bankauszüge angeschaut und Steuerbescheide et cetera. Phuu, wenn ich nur schon daran denke…! Wieder und wieder wurden unsere Finanzen unter die Lupe genommen, als ob es bei einer Adoption in erster Linie auf das Geld ankäme – und nicht auf die Liebe, die zwei Menschen zu geben haben.

Die meisten der Hürden hatten wir genommen, als erneut ein Gespräch mit einer Sachbearbeiterin oder Fürsorgerin anstand, ich weiss es nicht mehr. Ich weiss nur noch, dass es eine ältere Dame war, mit verbitterten Zügen, ohne einen Funken Lebensfreude. Eine enttäuschte alte Jungfer, habe ich damals gedacht. Sie musterte uns und sagte: «Erzählen sie mir von ihrem Sexualleben». Da ist meinem Mann der Kragen geplatzt. «Haben sie überhaupt eine Ahnung, was Sex ist?» hat er gerufen und auf den Tisch gehauen. «Komm wir gehen», sagte er zu mir. Und das war’s dann mit Adoptieren. Es hat wohl wirklich nicht sein sollen. Wir hatten auch so ein schönes Leben zusammen. Wir hatten ja einander. Ich freute mich jeweils schon am Morgen, dass ich ihn am Abend wiedersehe.

In Lausanne, wo wir wohnten, habe ich auf einer Krankenkasse gearbeitet und wurde Chefin von acht Mitarbeitern. Wir waren ein tolles Team - das war eine gute Zeit.

Mit meinem Mann habe ich gelernt, Probleme anzusprechen; einfach alles auszusprechen, was einen so drückt. Doch immer freundlich, immer respektvoll. Dann kann man über alles reden.

Mein Mann wurde nur 54 Jahre alt. Er ist von einem Tag auf den anderen an Herzversagen gestorben. Sein früher Tod war das Schlimmste, das mir widerfuhr. Damals war ich knapp fünfzig Jahre alt - und habe nie mehr einen anderen Mann kennengelernt. Ich hätte jeden nur mit ihm verglichen, und das wäre nicht gut gewesen - für niemanden.

Jetzt ist das schon sehr lange her. Und doch denke ich jeden Tag an ihn; ich spüre seine Anwesenheit noch immer. Manchmal rede ich mit ihm. Die Verbundenheit hört nicht auf, nur weil einer nicht mehr unter den Lebenden weilt.

Den Panda hat sie vor über 30 Jahren von ihrem Mann geschenkt bekommen. Seither hat sie in bei sich.

Unsere Mutter zu pflegen, war eine Ehrensache
Nach dem Tod meines Mannes bin ich zurück nach Winterthur gezogen; weg von Lausanne, wo ich über dreissig Jahre lang gelebt hatte. Mein Vater war ebenfalls verstorben und meine Mutter krank und pflegebedürftig geworden. Ihr mussten beide Beine amputiert werden und sie war auf den Rollstuhl angewiesen. Das hat uns alle mehr beelendet, als dass es ihr zu schaffen gemacht hätte. Für uns Geschwister war es eine Ehrensache, für unsere Mutter da zu sein und sie zu pflegen. Wir haben uns im Turnus abgewechselt, so dass sie nie allein war. Jedes von uns hat jeweils einen Tag bei ihr gewohnt, sie gepflegt und gekocht. Dasselbe hätten wir auch für unseren Vater getan. Wenn man mit so lieben Eltern aufgewachsen ist wie wir, dann ist es einfach das Mindeste, was man tun kann – im Alter für sie da zu sein.

Wenn man etwas gerne tut, soll man gar nicht mehr damit aufhören
Ich habe gearbeitet, bis ich 74 Jahre alt war. Als medizinische Assistentin in der Praxis einer Ärztin. Mein Arbeitsbereich war vielfältig und spannend, ich durfte alles – ausser Blut entnehmen. Ich habe so lange gearbeitet, weil ich grosse Freude daran hatte. Wenn man etwas gerne tut, soll man gar nicht mehr damit aufhören.

In die Ferien gefahren bin ich nie, ich hatte diesen Drang überhaupt nicht. Ich war so gerne zu Hause und bin in meiner Freizeit durch die Wälder spaziert, den Eschenbergwald liebte ich ganz besonders. Der war quasi mein Revier.

Es ist wichtig, nicht zu schnell durchs eigene Leben zu eilen – auch mal anzuhalten, zu verweilen und zu betrachten.

Porzellan malen war mein grosses Hobby - und Pferde, die habe ich besonders gerne. Reiten war meine Passion in jüngeren Jahren. Ich bin überhaupt sehr tierliebend und hatte immer mindestens eine Katze bei mir zu Hause. Katzen sind eine wunderbare Gesellschaft. Es sind so feinfühlige Wesen, sie bringen einen zum Nachdenken und zum Lachen. Die Katze Filou beispielsweise hat mir die Wange geleckt, als ich nach einem Sturz in der Küche auf dem Boden lag, fast wahnsinnig vor Schmerzen. Sie hat neben mir ausgeharrt, Stunde um Stunde, bis ich schliesslich gefunden und ins Spital gebracht wurde.

Der rote Kater war ihr Lieblingsbüsi, der Hund ist von einer Freundin und die anderen Katzen sind Hütekatzen die sie zu Besuch hatte. Die Katze oben links durfte Frau Vuagniaux sogar mal im St. Urban besuchen kommen.

Dies waren ihre eigenen Katzen

Ein Sinn ergibt sich oft erst im Nachhinein
Ich habe dreissig Jahre in einer Wohnung an der Wingertlistrasse gelebt, hier in Seen. Diese Wohnung war zu einem Teil von mir geworden, und es fiel mir sehr schwer, sie aufzugeben.

Doch hier, im St. Urban, gefällt es mir gut. Ich habe ein schönes Zimmer für mich, mit Balkon, und bin umgeben von Möbeln und Gegenständen aus meinem früheren Zuhause. Ich habe Zeit, um nachzudenken und mein Leben Revue passieren zu lassen.

Ein Sinn ergibt sich oft erst im Nachhinein, beim Betrachten des eigenen Lebens. Auf einmal fallen die Puzzlestücke an ihren Platz und ein Bild entfaltet sich.

Das Wichtigste ist, dankbar zu sein. Das wertzuschätzen, was ich habe und immer noch tun kann. Auch wenn ich momentan auf den Rollstuhl angewiesen bin – so habe ich immer noch meine fünf Sinne, ich darf immer noch wahrnehmen, auf allen Ebenen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Und ebenfalls wichtig ist es, die kleinen Dinge nicht zu vergessen. Es sind die kleinen Dinge, die beachtet werden wollen. Kleine Dinge, die glücklich machen. Sehen sie diese Ente dort, aus Glas? Die hat mir meine Mutter geschenkt. Wann immer ich sie betrachte, habe ich ein Glücksgefühl in mir. So einfach ist das.

Aufgezeichnet von Maja Friolet Dahinden