Ich glaube, dass wir in Situationen oder Herausforderungen geführt werden, um daran zu wachsen. Und dass es immer etwas Neues zu lernen gibt. Das hört nie auf. Momentan sitze ich zwar im Rollstuhl und bin auch schon ziemlich alt. Doch dass ich jetzt hier bin, im Altersheim, das hat einen Sinn, da habe ich etwas zu lernen – nämlich freundlich zu sein, geduldig und gelassen. Wenn man so viele Jahre wie ich allein gelebt hat, dann ist das Eingewöhnen an einen neuen Ort und das Zusammensein mit anderen Menschen nicht immer einfach.
Ich hatte beispielsweise vorher nie Kontakt mit Menschen, die an Demenz erkrankt waren, das gab es in unserer Familie zum Glück nicht. Doch hier begegne ich manchmal Menschen, die mir jeden Tag dasselbe erzählen. Anfänglich dachte ich, das halte ich nicht aus, da werde ich ja selber ganz konfus. Mittlerweile ist mir klar, dass ich hier wieder etwas lernen darf, nämlich mich nicht abzuschotten, sondern da zu sein und zuzuhören, denn jeder Mensch hat etwas zu erzählen, oder nicht? – Auch wenn es jeden Tag dasselbe ist.
Eine gute Kindheit macht satt fürs Leben
Ohne Verklärung oder etwas beschönigen zu wollen: Ich hatte eine wunderbare Kindheit und Jugend. Wenn man eine gute Kindheit gehabt hat, dann ist man satt fürs Leben, dann hat man einen Grundstock – und was auch immer später passiert, da wirft einen nichts so schnell aus der Bahn.
Wir waren zehn Kinder, acht Mädchen und zwei Buben. Natürlich mussten wir alle mithelfen, wo es ging, jedes von uns hatte seine Aufgabe, sei es im Haushalt oder im Garten. Als Zweitälteste habe ich mich vor allem um die Kleinen gekümmert, ich wickelte und badete sie und gab ihnen den Schoppen. Wie habe ich das geliebt. Kleine Kinder, die nach Milch riechen – es gibt wohl nichts Schöneres.
Meine Mutter hat zuerst vier Mädchen gekriegt. Als dann der erste kleine Bruder kam – was war das für eine Aufregung! Wir vier Schwestern haben ihn sofort ausgepackt, wir wollten doch wissen, wie er drunter genau aussieht. – Diesen ersten Bruder haben wir Mädchen vergöttert, er war der Hahn im Korb. Der zweite kriegte schon nicht mehr so viel Aufmerksamkeit, die Begeisterung hatte sich gelegt.
Von den anderen Kindern wurden wir gemieden
Wir wohnten hier in Seen, in einem grossen Haus im Waldegg, und hatten einen entsprechend langen Schulweg bis ins Zentrum. Von den anderen Kindern wurden wir gemieden, heute würde man wohl gemobbt sagen. – Es beschäftigt mich manchmal noch heute, wie grausam Kinder untereinander sein können. Wir sind beispielsweise nie zu Geburtstagsfesten oder sonstigen Unternehmungen eingeladen worden, stets war da eine spürbare Ablehnung uns Kindern vom Waldegg gegenüber. Ich weiss bis heute nicht, was es genau war. – Vielleicht einfach die Tatsache, dass die meisten der anderen Kinder aus reichen Haushalten stammten und sie nur zu zweit oder zu dritt zuhause waren?
Ein Schulgspänli hat mich mal gefragt: «Warum haben deine Eltern eigentlich so viele Kinder?» Beim Nachtessen stellte ich diese Frage dann ebenfalls. Ich weiss noch, wie meine Eltern gelacht haben. Mein Vater sagte: «Das ist ganz einfach. Ich muss nur an ein Kind denken und schon ist deine Mutter schwanger.»
Meine Mutter hatte Hände wie eine Fee
Ich war ein richtiger Papahöck. «Du bisch min Sunnestrahl», sagte er immer zu mir. – Meine Mutter? Sie hatte Hände wie eine Fee, sie konnte zaubern mit diesen Händen. Die meisten unserer Kleider hat sie selbst gemacht, ich weiss noch, wie sie manchmal um Mitternacht noch Stoffe zurechtschnitt und nähte. Zu Weihnachten kriegten wir unsere Päcklis in zehn verschiedenen Geschenkpapieren eingepackt und mit speziellen Schlaufen versehen. Das vergesse ich nie. Es war ein Ausdruck dafür, dass meine Eltern jedes von uns Kindern als einzigartig betrachtet haben und nicht als Teil eines «Haufens». – Auch viele Jahre später habe ich die schönsten Geschenke stets von ihnen gekriegt.
Von diesen ehemals zehn Kindern leben heute nur noch fünf.
Pharmazeutik ist eine Leidenschaft von mir
Alle meine Geschwister und ich durften einen Beruf erlernen. Das war dazumal keine Selbstverständlichkeit. Vor allem nicht für Mädchen. Ich machte meine Lehre als Apotheker-Assistentin in der Sternenapotheke in Winterthur. Medikamente waren und sind eine Leidenschaft vom mir. Das ganze weite Feld der Pharmazeutik interessiert mich sehr. Ich weiss auch heute noch ein wenig Bescheid über Inhaltsstoffe und Wirkungsweisen der verschiedenen Medikamente, die mir verschrieben werden; da hat schon mancher gestaunt. Es ist einfach ein spannendes Gebiet. Anschliessend bin ich ins Welschland gegangen, um Französisch zu lernen, wie die meisten Mädchen jener Zeit. Geplant gewesen war ein Jahr - es wurden dreissig Jahre daraus.
Ob mit Trauschein oder ohne – ich wollte einfach mit diesem Mann zusammen sein
Mein zukünftiger Mann ist mir von Anfang an aufgefallen – weil er so schön war. Er hatte im selben Haus wie ich ein Studio gemietet, und ist mir so immer mal wieder über den Weg gelaufen. Er war einfach ein unglaublich gutaussehender Mann. Leider schien er mich überhaupt nicht zu bemerken. «Warum schaut er mich nicht an?» habe ich mich gefragt. Dann, eines Morgens, hat er mich doch wahrgenommen. Er kam auf mich zu und sprach mich an – und das war der Anfang unserer Liebe.
Anschliessend sind wir ziemlich rassig zusammengezogen – ohne verheiratet zu sein. Das war damals, in den 50-er Jahren, in der Deutschschweiz noch fast ein Verbrechen. Die Welschen betrachteten dies viel entspannter. Und mir war es sowieso egal – ob mit Trauschein oder ohne, ich wollte einfach mit diesem Mann zusammen sein. Meinen Eltern habe ich natürlich nicht erzählt, dass ich mit meinem Freund zusammen wohnte. Wir sind einfach immer zu ihnen zu Besuch gegangen, so dass sie nicht in Versuchung gerieten, uns zu besuchen – denn dann wäre es natürlich aufgeflogen. Später haben wir dann auch geheiratet, in Montreux.